Emily glaubte zuerst, nicht richtig verstanden zu haben. Warum in aller Welt sollte sie in den Wald gehen? Niemand in Kanada würde auf die Idee kommen, freiweillig in den Wald zu gehen.
"Bush" nennen sie in Kanada den Wald. Und nur, wer sich von Dornen das Gesicht zerkratzen, sich verlaufen oder von einem Bären gefressen werden will, der geht aus freien Stücken in den Wald.
Spazieren geht man höchstens im Park in der Stadt oder auf den wenigen ausgewiesenen Wegen in Nationalparks. Aber niemand geht zum Wandern in den erstbesten Wald. Schon gar nicht mit Kindern oder um Pilze und Kastanien zu sammeln! Und überhaupt, was ist das: "Wandern"?
Schon bald gewöhnte sich Emily an diese seltsam Zuneigung der Deutschen zum Wald und Wandern. Sie sah ein, dass es keine gefährlichen Tiere gab, und die wie Autobahnen ausgeschilderten Wege im Wald selbst dem Dümmsten keine Chance ließen, verloren zu gehen.

Ein Ort, in dem viele Mythen spielten; ein Ort, an dem Hänsel & Gretel und Rotkäppchen die Gefahren des Lebens meisterten; ein Ort, in dem Räuber hausten; ein Ort, in dem schon vor 2000 Jahren Arminius die römische Übermacht in ihre Schranken wies.
Emily war fasziniert von dem generationenübergreifenden romantischen Waldbewusstseins der Deutschen. Welches Land sonst hatte seinen Wald auf seinen Münzen verewigt? Wo sonst wurden Lieder über den Wald als Freund gesungen? Wo sonst gab es Waldfriedhöfe? Wo sonst gab es Waldkindergärten? Wo sonst gab es Wörter wie "Waldsterben"?
Und so gewann sie mit den Jahren selber den Wald ein wenig lieb und hat inzwischen zu ihrer eingen Verwunderung den ein oder anderen Besucher aus der Heimat zu einem Spaziergang mit in den deutschen Wald genommen.
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