Samstag, 25. Dezember 2010

Schlange stehen

Deepali war erst seit ein paar Wochen in Deutschland und alles erstaunte sie.
Am meisten aber beeindruckte sie wie bessessen die Deutschen vom Schlangestehen waren. Es war erstaunlich zu sehen, wie die emisigen Deutschen geduldig im Supermarkt, bei der Post oder an der Theaterkasse warteten. Niemand in Indien würde sich dafür die Zeit nehmen. Schlangen waren doch so langsam und langweilig!
Und so kaufte Deepali ihre erste Zugfahrkarte gänzlich auf indische Art. Die Person vor ihr in der Schlange hatte noch nicht bezahlt, da streckte sie die Hand aus und fragte nach ihrer Karte. Die Dame am Schalter schaute sie ein wenig schräg an, gab ihr aber das Ticket.
"Na also, geht doch", dachte sie, "was haben die Deutschen bloß mit ihren Schlangen?".
Kaum auf dem Bahnsteig, kam auch schon ihr Zug. Der Zug hielt, sie stürmte hinein und schaute sich nach einem Fensterplatz um, als sie bemerkte wie die meisten Leute, die mit ihr auf dem Bahnsteig gewartet hatten, immer noch in so etwas wie einer Schlange draußen an der Tür standen.
Deepali war verwirrt und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Sie wusste zwar, sich im Gedränge durchzusetzen, aber diese stille Missachtung ihres Verhaltens bereitete ihr Unbehagen.
Zunächst wollte sie sich möglichst schnell auf einen Sitz in einer Ecke verkriechen, folgte dann aber doch dem Ruf ihres Gewissens, schlich verlegen aus dem Zug und reihte sich schüchtern hinten in die Schlange ein.
Die anderen nickten ihr anerkennend zu, und ihr wurde klar, dass die Deutschen Schlangestehen anscheinend nicht als Zeichen der Schwäche, sondern des Respekts ansahen.

Keine Kommentare: